ADHS und Neurodiversität: eine Störung oder eine andere Art zu denken?

Eine Einladung zum Nachdenken aus der Sicht von Prof. Edmund Sonuga-Barke

Autorin: Dr. Ilaria Obbili, Psychotherapeutin – Ärztliche Leiterin Ambulatorio Fachambulanz PECOM – Bozen (Trentino Südtirol)

In den letzten Jahren ist die wissenschaftliche und kulturelle Debatte über ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) durch neue Stimmen und Perspektiven bereichert worden. Immer mehr Experten schlagen eine neue, umfassendere und weniger stigmatisierende Interpretation vor, die sie in das Konzept der Neurodiversität einordnet. Herausragend sind die Überlegungen von Prof. Edmund Sonuga-Barke, Professor für Entwicklungspsychologie am King’s College London und einer der führenden internationalen Experten für die Funktionsweise von ADHS.

Sonuga-Barke zufolge ist ADHS nicht nur eine neurologische Entwicklungsstörung, sondern auch ein natürlicher Ausdruck der Vielfalt des menschlichen Gehirns, eine andere Art zu denken, zu handeln und auf die Welt zu reagieren.

Diese Sichtweise leugnet nicht das Vorhandensein echter, behindernder Schwierigkeiten, lädt aber auch dazu ein, die Stärken zu berücksichtigen, die häufig mit diesem neurodiversen Profil einhergehen: Kreativität, Intuition, Energie, divergentes Denken.

Ein Paradigma im Wandel

In einer seiner bahnbrechenden Veröffentlichungen schreibt Sonuga-Barke:

„Rather than seeing ADHD solely as a neurodevelopmental disorder, it may be more fruitful to conceptualise it within a framework of neurodiversity, where cognitive styles are viewed in terms of both challenges and strengths.“
— Sonuga-Barke, E. J. S. (2020). Editorial: ADHD and the rise of neurodiversity. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 61(6), 681–682. https://doi.org/10.1111/jcpp.13209

Diese Überlegungen sind Teil einer breiteren Bewegung, die die Gesellschaft – und insbesondere die Bildungs-, Gesundheits- und Arbeitssysteme auffordert, die Konzepte von Normalität und Anpassung zu überdenken, einschließlich der neurologischen Variabilität als natürlicher Bestandteil des Menschen.

Das Stigma des Begriffs „Störung“

Die Definition von ADHS als „Störung“ hat sicherlich einen klinischen und diagnostischen Wert: Sie hilft, das Leiden zu benennen, therapeutische Wege zu finden und Unterstützung zu erhalten. Dennoch besteht die Gefahr, dass eine Person durch ihre Diagnose verunsichert wird, was zu Autostigmatismus, Insuffizienz und Ausgrenzung führt.

Es ist heute notwendiger denn je, die Debatte über die Bedeutung von „Unordnung“ zu eröffnen. Nicht, um die Schwierigkeiten zu leugnen, sondern um um eine umfassendere, respektvollere und vollständigere Sicht des Individuums zu fördern.

ADHS und Neurodiversität: eine Realität, die uns alle betrifft

Als Fachleute, Kinderneuropsychiater, Psychologen, Pädagogen, Eltern und Bürger sind wir aufgerufen, uns zu fragen:

  • Ist ADHS wirklich nur eine Störung?
  • Oder ist es auch eine andere Art, in der Welt zu sein, eine, die Verständnis, Anpassung und Wertschätzung erfordert?
  • Wie können wir das Umfeld – Schule, Familie, Arbeit – so verändern, dass es neurodiverse Menschen stärker einbezieht?

Neurodiversität ist eine Realität, die uns alle angeht. Räume für die Debatte über diese Themen zu öffnen bedeutet, starre Modelle in Frage zu stellen und gemeinsam eine einladendere und pluralistischere Kultur aufzubauen.